tl;dr Verbreitet diesen Text. Er ist gut.

In https://injensiv.wordpress.com/2014/03/26/ueberwachung-respekt-statt-bugfixes/ hatte ich grundlegende Fragen an die Zivilgesellschaft in Zeiten allumfassender Überwachung formuliert. Eine Antwort musste ich schuldig bleiben. Ihr möglicher Anfang folgt jetzt:

Informationelle Selbstbeschränkung! Mut zum Wegschauen! Wo Unrecht geschieht, müssen wir hinschauen. Doch die Mehrzahl dessen, was uns umgibt, ist kein gerade geschehendes Unrecht.

Schaut weg! Interessiert euch nicht für das Zimmer hinter dem offenen Fenster! Nicht für dessen geschmackvolle oder -lose Einrichtung! Nicht für die Unterhose auf dem Bett!

Hört weg! Es ist egal, wen Mitreisende abends warum treffen! Es ist egal, welche Probleme welche ihrer Bekannten haben! Sie reden nicht für euch darüber!

Klickt weg! Diese Nachricht ist nicht für euch! Dieses Bild ist privat! Es war nicht eure Party! Es ist nicht euer Leben!

Doch hört hin, wenn euch ein Mensch anspricht. Schaut hin, wo Unrecht geschieht. Verbreitet gute Texte.

Werdet informationskompetent – aus Sicht der Betroffenen!

Die folgende Erklärung habe ich eben an den für mich zuständigen Landesverband Berlin gesendet:

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Liebe Mitstreitende,

hiermit erkläre ich mit sofortiger Wirkung meinen Austritt aus der Piratenpartei Deutschland und ihren Gliederungen. Sollte eine andere Stelle für die Entgegennahme zuständig sein, leitet meinen Austritt bitte dorthin weiter.

Seid versichert, dass die Gründe für meinen Austritt nichts mit dem LV Berlin zu tun haben. Die mittlerweile mehrmals täglich erfolgenden reaktionären Entgleisungen der Bundespartei lassen mir jedoch keine andere Wahl. Das, was dort geschieht, ist das Gebaren eines scharfen politischen Gegners. Dass dabei das Parteiprogramm mit Füßen getreten wird, spricht zwar für das Programm, aber eben auch gegen die Verfasstheit der Gesamtpartei.

Ich wollte bis zum Jahresende warten, ob es sich beruhigt und zum Guten entwickelt. Allein: Es geht nicht mehr, keinen Tag länger. Das Gewissen sagt: nein.

Unseren gemeinsamen Zielen und Idealen bleibe ich über die Progressive Plattform erhalten.

Dem LV Berlin wünsche ich viel Erfolg, der Bundespartei den Untergang.

Viele Grüße


PS: Ein Mitgliedsausweis wurde mir bisher nicht zugeschickt, ich kann ihn daher nicht zurückgeben.
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tl;dr Personenbezogene Ausgrenzung ist die Ausgrenzung von Menschen einzig und allein aus dem Grund, dass sie so sind, wie sie sind.

Personenbezogene Ausgrenzung ist selbst bei sehr aufgeschlossenen Menschen weitgehend ein blinder Fleck. Sie ist überall, doch sie wird fast nie bemerkt. Ihre Erscheinungsformen reichen von bloßer Nichtbeachtung bis hin zu Mobbing.

Sie ist, damit fängt es an, bereits für Betroffene schwer festzustellen. Denn sprechen sie mit Mitmenschen über ihre Situation, so werden ihnen allerlei plausible Gründe genannt. Sie sollten doch hier oder dort etwas an sich arbeiten. Tun sie das, ändert sich – das ist charakteristisch für personenbezogene Ausgrenzung – dennoch nichts. Sie laufen lediglich Gefahr, sich auch noch von sich selbst zu entfremden. Egal, was sie tun oder lassen, irgendwas passt einfach nicht.

Für andere, nichtbetroffene Menschen ist personenbezogene Ausgrenzung noch schwerer festzustellen. Jedem Menschen steht es zu, andere einfach mal nicht zu mögen oder nichts mit ihnen anzufangen zu wissen. Das schließt Sympathie nicht aus. „Es kann doch nicht sein, dass ein Mensch wie du keine Freunde hat!“ Doch das sollen immer nur die anderen sein. Dass es die nicht gibt, ist im Alltag nicht sichtbar.

Was aber tun? Grundlegende Inkompatibilität, das Fehlen einer wesentlichen Schnittstelle, lässt sich nicht beheben. Es ist aber möglich, personenbezogen Ausgegrenzten die Teilhabe an der Gesellschaft wie in Gruppen wie in einzelnen Situationen zu erleichtern. Grundlegend wichtig ist dabei:

Geht auf uns zu! Auch dann, wenn wir mitten unter euch sind! Denn grundlegend sind wir am Rand und prallen an euch ab!  Erwartet nichts, geht hin, sagt irgendwas! Wir kennen die Situation, ab da machen wir mit! Bedenkt nur: Was für euch selbstverständlich ist, kann für uns irre schwer (geworden) sein. Und aus den eingangs genannten Gründen: Verzichtet auf Ratschläge! Es ist nicht so, wie ihr vermutlich meint, sonst wäre es nicht so!

Praktisch gesprochen: Achtet auf die Struktur einer Situation. Bilden sich Grüppchen? Stehen manche bindungslos am Rand oder zwischen den Grüppchen? Sind manche immer wieder alleine? Und da ihr nichts anderes tut, als euch ihnen zuzuwenden, passt das alles auch dann, wenn sie gar nicht personenbezogen ausgegrenzt sind.

Achtet auf uns, nehmt euch die Zeit.

Der Wahl-O-Mat ist eine spannende Sache. Meine Wahlentscheidung hat er noch nie beeinflusst, die war stets vorher schon klar. Doch zeigt er immer recht anschaulich, wo ich politisch stehe. Wer ist mir nah, wo sind die Gräben? Letztlich dient er mir also zur Selbstüberprüfung, so überraschend wie ein morgendlicher Sonnenaufgang. Dennoch und gerade deshalb möchte ich alle Interessierten an meinem politischen Standpunkt teilhaben lassen.

Der große Graben verläuft traditionell zwischen im weitesten Sinne linken Parteien und dezidiert rechten oder marktradikalen Parteien. Aufgrund meiner internationalistischen Orientierung war zudem zu erwarten, dass die Linke diesmal etwas schlechter als sonst abschneiden würde. So kam es dann auch:

Grüne                        88,2 %
Piraten                      86,8 %
SPD                           81,6 %
Tierschutzpartei      81,6 %
Die Linke                  80,3 %

ÖDP                          72,4 %
Die Partei                 69,7 %
MLPD                        69,7 %
DKP                           68,4 %
Familien-Partei        67,1 %

PSG                           59,2 %
PBC                           53,9 %
FDP                           51,3 %
Freie Wähler            51,3 %
Volksabstimmung   51,3 %

Bayernpartei            47,4 %
AfD                             46,1 %
CDU                           43,4 %
CSU                           43,4 %
NPD                           42,1 %

Christliche Mitte       39,5 %
BüSo                          34,2 %
Pro NRW                   27,6 %
AUF                            22,4 %
Republikaner           22,4 %

tl;dr In der Diskussion über eine Gesellschaft unter Überwachung dominieren bisher technische Antworten auf technische Fragen. Die Zivilgesellschaft bleibt weitgehend außen vor. Sie steht vor wichtigen Fragen.

Seit dem Jahr 2013 ist bekannt, dass Geheimdienste uns alle längst in vorher nicht vorzustellen gewagtem Ausmaß überwachen. Auch andere Stellen sammeln alle Daten, derer sie habhaft werden können. Mit jeder zusätzlichen Enthüllung malen wir weiter an diesem hässlichen Bild. Empört, versteht sich.

Die ersten Antworten haben wir auch schon. So naheliegend wie letztlich nutzlos. Auf Überwachung reagieren wir mit Verschlüsselung. Auf die Gier nach Daten reagieren wir mit dem Verstecken von Daten. Das mag uns kurzfristig Erleichterung verschaffen. Es erhöht die Hürden für unsere Gegner. Doch es löst das Problem nicht. Denn es folgt der Logik unserer Gegner. Es macht das Problem der Überwachung zu einer Frage der Technik.

Das erklärt vielleicht auch das relative Desinteresse in der breiten Bevölkerung: Sie sieht sich zum Gegenstand eines technischen Wettlaufs gemacht, bei dem sie weder die eine noch die andere Seite sinnerfassend einzuschätzen weiß. Überwachung als Naturgewalt statt als gesellschaftliches Thema. Es kommen bestimmt auch wieder schönere Tage.

Technik kann in einer Gesellschaft ein Mittel zur Verwirklichung von Antworten auf Fragen sein. Technik ist gesellschaftlich jedoch weder als Frage noch als Antwort selbst geeignet. So auch hier. Bevor wir zur Technik kommen, brauchen wir Fragen und Antworten.

Was bedeutet es für das gesellschaftliche Miteinander, dass sehr viele Daten einer unbekannten Vielzahl von Menschen zugänglich sind? Welche Regeln wollen wir uns für den Umgang mit fremden Daten geben? Wen wollen wir dafür in die Verantwortung nehmen? Das sind nur einige der dringendsten Fragen.

Die meisten Ansätze zielen bisher anscheinend auf die, um deren Daten es geht. Sie werden für den Umgang damit in die Verantwortung genommen. Läuft etwas schief, seien sie selbst schuld. Es sei doch klar, dass alle etwas zu verbergen hätten. Hätten sie es halt mal verborgen oder gar nicht erst so weit kommen lassen. Diesen Ansätzen ist gemein, dass sie verschließende Tendenzen verfolgen. Sie sind damit für eine freiheitliche Gesellschaft ungeeignet.

Wie wäre es denn mit dem Gegenteil? Einer Gesellschaft, in der es nicht darauf ankäme, welche Daten wem bekannt sind oder werden? Einer Gesellschaft, in der Daten nur auf Wunsch der Betroffenen bedeutsam würden? Die Beschränkungen würden nicht mehr den Verursachern von Daten auferlegt, sondern potentiellen Verwendern, mithin: jeweils allen anderen.

Informationskompetenz ist bekannt als Herausfischen einiger weniger Informationen aus einer großen Informationsmenge. Im Kern geht es dabei um die Relevanz der Informationen.
Die allgegenwärtige Verfügbarkeit persönlicher Daten stellt uns vor die Herausforderung, der Informationskompetenz die Datenkompetenz beizugesellen. Entscheidend ist hier wiederum die Frage nach der Relevanz:

Welche Daten gehen uns etwas an? Wie schaffen wir es, alle anderen Daten, so verlockend sie auch sein mögen, nicht weiter zu beachten? Wie gehen wir mit Menschen um, die solche Daten dennoch beachten oder benutzen?

All diesen Fragen ist gemein, dass es danach gar nicht mehr auf den Stand der (Überwachungs-)Technik ankäme. Nicht mehr die Angst vor Überwachung dominierte, sondern selbstbewusste Maßstäbe einer freiheitlichen Gesellschaft. Einer Gesellschaft, die um den Wert von Daten weiß. Einer Gesellschaft, die um die Vorteile offener Strukturen weiß. Einer Gesellschaft, die darum auch selbstbewusst genug ist, ihre Nase nicht in jede Öffnung zu stecken. Einer Gesellschaft, die Datenschutz durch Datenrespekt verwirklicht.

Es ist an der Zeit, diese Fragen zu stellen.

tl;dr Wir benötigen einen konstruktiven Umgang mit Fehlgriffen und Entgleisungen. Awareness-Teams auch außerhalb von Versammlungen könnten dabei helfen.

Die Piratenpartei vereint zwei spannende Aspekte: Hohe Sensibilität für als unangemessen empfundene Äußerungen einerseits, Freude an der Äußerung als scharfer Waffe andererseits. Bei sehr unterschiedlicher politischer Sozialisation führt das immer wieder zu heftigen Konflikten.
Bisher werden diese Konflikte konventionell ausgetragen, mit allen Hässlichkeiten die zwischenmenschliche Kommunikation ermöglicht. Gelöst werden sie dabei nur selten.

Wo unterschiedliche politische Sozialisationen aufeinander prallen, ist Konfliktlösung im Sinne von Einigung nicht zu erwarten. Es kann nur um konstruktiven Umgang mit Vielfalt gehen.
Dieser Umgang wird erschwert, wenn der Austausch über eine Äußerung mit jeder Kenntnisnahme durch eine weitere Person wieder von vorne beginnt; mit wachsendem Stress für die vorher bereits Beteiligten. Zudem vermengen sich dabei Sach- und Beziehungsebene auf destruktivste Weise zu einem undurchdringlichen Geflecht aus Meinungen und Animositäten.
Zugleich gibt es aber das verständliche Bedürfnis, zumindest Entgleisungen etwas entgegenzusetzen. Eine Vergewisserung nach innen und nach außen, wie wir mit uns und anderen umgehen wollen, und inwiefern dieser Umgang verletzt wurde.

Ziel kann also nicht Einigung in der Sache sein, sondern nur und allerdings Respekt vor einander und anderen.

Respekt ist auch eine Frage von Symbolen, im Alltag wie in der Politik. Symbole, die für etwas stehen, was einer Gemeinschaft wie auch Einzelnen wichtig ist.
Umgekehrt stehen Fehlgriffe und Entgleisungen für die Verletzung dessen, was einer Gemeinschaft oder Einzelnen wichtig ist. Sie sind negative Symbole.
Konstruktiver Umgang mit einem Fehlgriff ist es dann, dem negativen Symbol das positive Symbol gegenüber zu stellen; und zwar im doppelten Sinne: Durch Hinweis auf den Fehlgriff, aber auch durch Wahrung des Respekts bei diesem Hinweis.

Um einem negativen Symbol ein positives Symbol gegenüber zu stellen, bedarf es keiner Vielzahl von Erwiderungen. Es bedarf auch keiner bestimmten Person dazu. Es ist damit einer Institutionalisierung zugänglich.

Die Piratenpartei arbeitet bereits mit dem Begriff der Awareness, mit Awareness-Teams und Awareness-Karten. Bisher beschränkt sich dies aber wohl auf größere Vor-Ort-Versammlungen. Der Großteil der Kommunikation der Partei findet aber drumherum statt. Hier gibt es anscheinend nahezu keine Awareness-Strukturen. Hier treten aber die eingangs genannten Probleme auf, die sich zu einer Spirale der Respektlosigkeit verbinden. Hier fehlen Awareness-Teams.

Wie wäre es denn, wenn es Gruppen von Piraten unterschiedlicher Hintergründe gäbe, die auch hier Zeichen setzen und Respekt wieder herstellen könnten? Wie viel Entlastung brächte das den Beteiligten aller Seiten? Wie viel Klarheit nach innen wie nach außen gewännen wir dadurch? Wie transparent und zugleich politikfähig wirkten wir dann endlich?

Ich kenne zu wenig Details, um zu wissen, wie wir dieser Idee zur Umsetzung verhelfen könnten. Ich weiß nicht, was ginge und was nicht. Doch ich spüre: Wir müssen Wege zu institutionalisierter Awareness in unserem politischen Alltag finden.

tl;dr Beim Umgang mit neuen Piraten läuft vieles schief. Ginge es auch besser?

Der Moment, in dem ein Mensch in eine Partei eintritt, ist ein Moment voller Entschluss- und Schaffenskraft. Endlich (wieder) mitmischen, endlich etwas ändern! Zugleich ist es auch der Moment, in dem Partei und Neumitglied einander am wenigsten kennen. In meinen ersten Worten bei meinem ersten Crewtreffen: „Ich kenne euch nicht, ihr kennt mich nicht.“

In einem Moment mit vielen Unbekannten kann viel gelingen oder viel misslingen. Bei mir ist viel misslungen:
Mein Aufnahmeantrag (Papier, Briefpost) ging wohl unter. Nach über zwei Monaten mitsamt diverser Nachfragen bis hin zu Mails mit angehängten Fotos des Antrags wurde ich aufgenommen. Na endlich, mitmachen und mitbestimmen!

Äh, also, theoretisch. Es folgte beinahe nichts. Aber Wartezeiten werden ja auch angekündigt. Nach zwei weiteren Monaten gab es eine Veranstaltung: Akkreditierung fürs Bezirksliquid! Auf bald folgende Nachfragen zu Landes- und Bundesliquid: eine beschwichtigende Antwort, eine Nichtantwort. Und selbst Akkreditierung ist ungleich Einführung.

Aber es gibt ja noch Crewtreffen! Äh, also: Erstmal eine geeignete Crew finden in der langen Liste. Meist verrauchte Orte halbwegs miteinander befreundeter Menschen. Nette Menschen, meist aufgeschlossen, unterschiedlich politisiert. Aber verraucht. Inklusion, my ass! „Wäre schön, wenn du wieder kommst, ja, danke auch, tschüss…“

Aber die Parteitage! Äh, also: Nimm dir ohne vernünftige Zugänge und ohne Leute zu kennen einfach mal ein ganzes Wochenende, fahre ggf. nach XYZ und sieh zu, wie du klar kommst. Auf dieses Spektakel habe ich dann schon verzichtet. Es gibt dankbarere und sogar sinnvollere Möglichkeiten der Freizeitgestaltung.

Soweit ein unvollständiger Einblick in das, was alles misslingen kann. Was aber könnten wir besser machen?

Erreichbarkeit: Wir brauchen Lotsen! Wer Mitglied werden will, muss direkt danach eine persönliche Ansprechpartner*in genannt bekommen. „Was funktioniert wie? Wohin kann ich mich weswegen wenden? Ist das üblich so? Kannst du mir helfen, wenn ich zu dieser oder jener größeren Versammlung erscheine?“ Das sind nur ein paar der Fragen, die Piraten-Wiki usw. nicht wirklich beantworten. Und die anderen Piraten können das ja alles schon…

Einbindung: Wir brauchen Treffen für Neulinge! Niedrigstschwellig, maximal barrierefrei, speziell für Neulinge. Regelmäßig, mit Einladung und Nachbereitung. Kontakte knüpfen, voneinander lernen, miteinander üben. Und dabei helfen, die Partei besser zu machen. Wer sollte der Partei besser Rückmeldung zu allerlei Aspekten nach innen und außen geben als engagierte Neulinge?

Aktivierung: Wer erstmal ein paar Kommunikationskanäle nutzt, erfährt von verschiedenen Treffen und Aktionen. Nur steht kaum dabei, was es genau ist, an wen es sich richtet, wie es geht, was dafür erforderlich ist und wie lange es etwa dauert. Wäre vielleicht auch zu viel, falls es den meisten Piraten sowieso klar ist. Warum aber nicht stets eine Einführung für Neulinge oder Reaktivierte? „Neulinge kommen eine halbe Stunde früher. Bringt bitte dies, das und jenes mit. Wir erklären euch dann alles.“

Dokumentation: Piraten-Wiki usw. sind selbst für netzaffine Neulinge erstmal Expertensysteme. Sie sind inkonsistent, unübersichtlich und unvollständig. Wer alles weiß, findet jedes Detail. Wer noch nichts weiß, findet allenfalls Bruchstücke. Es ist als drückten wir Menschen, die Freunde suchen, ein Telefonbuch in die Hand.
Wir brauchen einen redaktionell sorgfältig gepflegten, schlüssigen und eindeutigen Leitfaden für Neulinge. Einen orangenen Faden!

Bei alledem habe ich mich noch nicht mal zur Kommunikations- und Fehlerkultur, zu Gates und Schützengräben geäußert. Denkt es euch dazu, lest alles da oben vielleicht noch einmal und fragt euch dann:

Wie machen wir Interessierte zu aktiven Piraten?

Es gibt bei den Piraten anscheinend einige Menschen, die ein eher gremienorientiertes Verständnis von demokratischer Teilhabe haben. Zu diesem Verständnis gehört eine Liebe zu epischen Geschäftsordnungs- und Tagesordnungsdebatten, hingebungsvoll inszeniert. Diese Hingabe wird gerne garniert mit juristischem Halbwissen, wobei die relevanten Fertigkeiten in der anderen Hälfte zu liegen pflegen.

Für die Entwicklung eines demokratischen Staatsbürgers mag es wichtig sein, solche Erfahrungen zu machen. Doof ist es aber, wenn dazu immer und immer wieder auch diejenigen herangezogen werden, die sowas nicht brauchen oder wollen. Hier macht es sich bemerkbar, dass es die Piraten noch nicht so lange gibt. Denn dadurch fehlen einigen nicht mehr ganz so jungen Piraten die Erfahrungen in epischem Sitzungsgemetzel, die woanders in den Jugendorganisationen und Hochschulgruppen gemacht werden.

Es ist selten zu spät für eine glückliche Kindheit. Sie sollen ihre Erfahrungen nachholen. Sie sollen sich dabei wichtig fühlen. Sie sollen beachtet werden. Sie sollen ihren Mittagsschlaf machen und abends abgeholt werden. Sie brauchen eine Spielwiese!

Eine solche Spielwiese könnte ein in der Satzung verankertes Gremium sein. Die Mitglieder würden gewählt. Zur Verfeinerung der demokratischen Erfahrung könnten die Kandidaten angeben, ob sie im ersten oder zweiten Wahlgang gewählt werden wollen. Auch der Wunsch, bei der Wahl durchzufallen, wäre möglich. Dem Wunsch des Kandidaten wäre stets zu entsprechen.

Seine innere Ordnung könnte das Gremium selbst bestimmen, womit es im Wesentlichen bereits ausgelastet sein dürfte. Über die Ergebnisse seines Wirkens wäre ein halbjährlicher Bericht zu fertigen, um Interessierte daran teilhaben zu lassen. Ein Anspruch auf Befassung damit bestünde aber nicht. Grenzen fände das Wirken des Gremiums nach innen wie nach außen dort, wo ein Parteiausschlussverfahren anfängt. Schon deshalb wäre mit einer gewissen Fluktuation zu rechnen.

In Anbetracht des zu erwartenden Geltungsdranges der gewählten Mitglieder darf der Name des Gremiums natürlich nicht Spielwiese lauten. Er muss schon etwas her machen, ohne nach außen allzu große Irritationen hervorzurufen. „Rat für demokratische Innovationen“ wäre zum Beispiel schön. So könnten die gewählten Mitglieder dann auch angemessen in der Öffentlichkeit auftreten: „Stellvertreter des dritten ordentlichen Schriftführers des Rates für demokratische Innovationen der Piratenpartei Deutschland“

Eines der Dinge, die ich bei den Piraten höchst seltsam finde, ist die Vorstellung eines im Wesentlichen verwaltenden Vorstands. Dahinter steht, wenn ich es richtig verstanden habe, die Idee, dass alle Piraten gleichermaßermaßen wichtig sind und Strukturen daher sowieso nur ein notwendiges Übel seien. Beides sind wunderbar sympathische Ansätze. Es ist nur leider alles nicht so einfach.

Das mit der gleichen Wichtigkeit aller Piraten wird an vielen Stellen durchbrochen. Es gibt Beauftragungen, es gibt Mandatsträger, es gibt – nicht zuletzt – Präsenzparteitage. Letztere, als Inkarnation gleicher Mitbestimmung gepriesen, nehmen unglücklicherweise all jenen Piraten ihre grundlegend gleiche Wichtigkeit, die aufgrund ihres sonstigen Lebens dort nicht teilnehmen können. Rumms, nix mit gleicher Wichtigkeit!

Wer Strukturen als notwendiges Übel begreift, kann damit redlicherweise nur formelle Strukturen meinen. Denn informelle Strukturen entstehen überall, wo Menschen aufeinander treffen. Gerade eine Partei, die sich Transparenz auf die orangefarbenen Fahnen geschrieben hat, müsste alles dafür tun, dass die informellen Strukturen durch formelle Strukturen sichtbar werden. Das soll und muss die informellen Strukturen nicht bürokratisieren, aber es legt sie offen. So verstanden sind formelle Strukturen nicht notwendiges Übel, sondern Ausdruck gelebter Transparenz.

Schließlich: Wir machen hier Politik. Das Wesentliche, worum es geht, ist also Politik. Nach außen tritt diese Politik durch Menschen in Erscheinung. Diese Menschen sollten politische Menschen sein, die sich politisch äußern. Besonders nach außen bekannte Menschen sind zum Beispiel Vorstände. Also sind diese Menschen besonders dazu berufen, unsere Politik nach außen zu tragen. Das tun sie auf Grundlage der Parteimeinung. Aber das tun sie eben auch als politische Menschen. Das allgemeine Piratische oder Piratige Mandat gilt auch für Vorstände. Ihr Amt verpflichtet sie dabei zu besonderer Sorgfalt, aber es nimmt ihnen keine Rechte, die sie ohne dieses Amt hätten. Das Vertrauen, dass sie eigene, von der Parteimeinung abweichende Standpunkte nach sorgfältiger innerer Prüfung angemessen vertreten, sollten wir ihnen entgegenbringen. Immerhin haben wir sie gewählt.

Auf die Piraten aufmerksam wurde ich im Vorfeld der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus 2011. Endlich eine Partei, die das Internet in seiner Bedeutung als Ort sozialen Lebens begreift und nutzt! Ab da verfolgte ich die Entwicklung der Piraten auf den diversen Kanälen im Internet. Ich sah die programmatische Entwicklung, aber auch die zahlreichen wüsten Streitereien. Ich sah, wie die Partei einerseits in einer Art Goldgräberstimmung überrannt wurde, andererseits aber klare Wertebekenntnisse, zum Beispiel eine klare Abgrenzung gegen Rechtspopulisten, ausblieben. Ich sah die SMV vorerst scheitern. Ich war enttäuscht. Wieder blieb eine frische Partei im linksliberalen Spektrum weit hinter dem zurück, was möglich gewesen wäre.

Dann kam der bleierne Wahlkampf zur Bundestagswahl 2013. Ein Wahlkampf, so frei von Politik, wie ich ihn mit meinen 35 Jahren noch nicht erlebt habe. Da half auch die Existenz der Piraten nicht viel. Denn die Piraten waren zwar munter und engagiert, aber als Gesamtpartei auf Bundesebene schlicht immer noch nicht politikfähig. Es mangelte immer noch am politischen Instinkt, zugleich drängten immer noch zu viele ins vermeintlich auf sie wartende Scheinwerferlicht. Eine Partei für meine Zweitstimme fand ich aus Gewohnheit und gewachsenen Wertvorstellungen zwar noch. Aber ich war frustriert, sehr frustriert. Nicht nur das, es hat mich irre gemacht, Tag für Tag in mir genagt.

Verrückt zu werden, ohne dies aktiv zu kanalisieren, ist kein guter Zustand. Außerdem habe ich mich immer als politischen Menschen begriffen, sozialisiert im links-grün-alternativen Bindestrichmilieu. Grüne Jugend, Grüne Hochschulgruppe, von 2003 bis 2005 auch Parteimitglied, zwar stets nur ein wenig vor Ort, aber immerhin, ich habe mich früher schon politisch engagiert.

So wuchs in dieser Phase, in der ich mir so sehr und so vergeblich einen politisierten Wahlkampf gewünscht hätte, in mir der Drang, mich selbst wieder politisch einzubringen. Mit den Grünen bin ich, bei aller Zustimmung zu weiten Teilen ihres Programms, durch. Sie sind längst zu sehr das, was sie für bürgerlich halten. Sie sind bräsig und in ihrer Aversion gegen radikale Neuerungen längst so, wie sie nie sein wollten und sollten.

Also dann doch die Piraten. Bei den Piraten geht es immer noch um die brennenden Fragen der Gegenwart. Im Kern und doch nur beispielhaft: Was bedeutet effektive Durchsetzung von Menschenrechten für alle Menschen heute? Wie die Gerechtigkeit erlangen, die gleiche Freiheit für alle erst ermöglicht? Wie Transparenz und informationelle Selbstbestimmung verbinden? Das sind brennende Herausforderungen, die sich nicht wegmoderieren lassen, die sich nicht für beendet erklären lassen, die aber auch genau gar nicht mit den Mitteln des 19. und 20. Jahrhunderts zu bewältigen sind.

So rückten nach und nach die Punkte, die mich bei den Piraten auch weiterhin stören, zur Seite. Zudem nahm ich an, dass ein Nichteinzug der Piraten in den Bundestag sich günstig auf die Partei auswirken werde. Wo kein Gold ist, ziehen hoffentlich auch die Goldgräber weiter. Irgendwann fasste ich in dieser Gemengelage den Entschluss: Wenn die Piraten nicht in den Bundestag einziehen, dann engagiere ich mich da.

Nach der Bundestagswahl nahm ich Kontakt zu den Berliner Piraten auf. Ich wollte mich schon noch in echt von den Menschen dort überzeugen.
Für meine Interessen wurde mir die Crew 65 im Wedding empfohlen. Wenn nicht jetzt, dann mache ich es nie: Ich besuchte deren nächstes Treffen. Aufgeschlossene Menschen, gute Diskussionen, viel spürbares Engagement; am nächsten Morgen war mein Aufnahmeantrag unterwegs.

Nun ist hier noch Platz für eine elegante Abrundung. Aber es geht ja erst los. Also erstmal ohne.